«Lange Zeit haben wir unsere Kälber restriktiv aufgezogen», sagt Anke Römer. Die deutsche Wissenschaftlerin von der Landesforschungsanstalt für Landwirtschaft und Fischerei (LFA) Mecklenburg-Vorpommern (D) spricht gar von «grossgehungert». Mit dem Ziel vor Augen, sie schnell zum Wiederkäuer zu machen und mit dem Wissen, das fehlende Wachstum in der späteren Entwicklungsphase zu kompensieren. «Das stimmt auch, doch wissen wir heute, dass das Wachstum in unterschiedlicher Weise erfolgt», ergänzt die promovierte Agronomin. Das Organwachstum erfolge in der frühen Lebensphase vorrangig durch Zellteilung, später nur noch durch Zellvergrösserung. «Die Kompensierung erfolgt also, aber dann nur noch durch das Wachstum der bis dahin gebildeten Organzellen. Wie viele Zellen gebildet werden können, hängt jedoch von der Intensität der Aufzucht in den ersten Tagen und Wochen des Lebens eines Kalbes ab», sagt Römer.
Über 200 000 Kälber
Die tägliche Zunahme von Kälbern wird durch die Versorgung in den ersten Lebenswochen bestimmt. Und diese beeinflusse die Leistung in der ersten Laktation und die Nutzungsdauer des jeweiligen Tiers. Das konnte mit Daten aus der Praxis nachgewiesen werden. Im deutschen Testherdenprojekt der Zuchtorganisation Rinder-Allianz dokumentierten 30 Milchviehbetriebe in Mecklenburg-Vorpommern zwischen 2005 und 2017 funktionale Merkmale von 243 404 Kälbern (Geburtsgewicht, Kalbeverlauf, Lebendmassedaten von Jungrindern und Behandlungen an Milchkühen nach einheitlichem Diagnoseschlüssel). Die dadurch gewonnen Informationen zeigen, welchen Einfluss die Aufzucht auf die spätere Leistung hat.
Viel und vor allem früh
Anke Römer sagt: «Es kommt nicht nur darauf an, dass ein Kalb wächst, sondern auch wann.» Sie plädiert für eine möglichst frühe Entwicklung. Weshalb? «Das erklärt die Zell-Physiologie. In den ersten Lebenstagen der Kälber entscheidet sich, wie viele Zellen im Euter für die Milchbildung angelegt werden und aus wie vielen Zellen die Lunge oder das Herz der Tiere bestehen», sagt sie.
Die ersten 40 Tage
Das Wachstum der Organe erfolge durch Zellteilung bis etwa 40 Tage nach der Geburt. Danach würden die Organe in Volumen und Masse hauptsächlich durch Zellvergrösserung zulegen. Zellneubildung finde ab jenem Zeitpunkt nur noch statt, um abgestorbene Zellen zu ersetzen.
Muttermilch ist das Beste
«Die beste und natürlichste Tränke ist die Milch der eigenen Mutter», sagt Anke Römer. Nach der Biestmilchphase sei daher Vollmilch eine gute Möglichkeit bei der Versorgung der Kälber. Entscheidet man sich für Milchpulver, sollte dieses von hoher Qualität und analog der Vollmilch, nicht zu dünn angemischt sein.
Verschiedene Einflüsse
«In der Aufzucht wird der Grundstein gelegt für die spätere Leistung», sagt Anke Römer. Einen signifikanten Einfluss auf die Leistung und Nutzungsdauer der späteren Milchkuh hatten im Praxisversuch das Geburtsgewicht in Kombination mit dem Geburtsverlauf, das Herdenmanagement, der Jahr-Saison-Effekt sowie die Laktationsnummer der Mutter.
Wie Anke Römer zusammen mit Julia Johannsen im «Top Agrar» schreibt, haben die Gewichtszunahmen bis zum 80. Lebenstag einen signifikanten Einfluss auf die Leistung und Nutzungsdauer der späteren Milchkuh. «Kälber, die nur 550 g pro Tag zulegten, erreichten im Schnitt 8200 kg in der ersten Laktation. Mit höheren Zunahmen stieg auch die Milchleistung an. Bei einer täglichen Zunahme von über 1000 g pro Tag in den ersten 80 Lebenstagen erreichten die Erstlaktierenden im Schnitt 8700 kg», heisst es im «Top Agrar».
Der Versuch wurde mit deutschen Holsteinkühen durchgeführt, einer Rasse, die grossrahmig, hochbeinig und flach bemuskelt ist. Was bedeutet das nun für Schweizer Betriebe, wo die Milch mit ganz unterschiedlichen Rassen wie Holstein und Red Holstein, Brown Swiss, aber auch mit Zweinutzungsrassen wie Simmental, Original Braunvieh und Swiss Fleckvieh produziert wird? Auf die Frage, ob hier Unterschiede bekannt seien, erklärt Römer: «Sicherlich gibt es in vielerlei Hinsicht Unterschiede zwischen den Rassen. Aber eine intensive Aufzucht der Kälber ist insbesondere aus physiologischer und metabolischer Sicht bei allen Säugetieren wichtig.»
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Mangel macht klein
Dass aus Kälbern, die sich im ersten halben Jahr gut entwickeln, grössere Kühe werden und diese dadurch auch einen höheren Erhaltungsbedarf aufweisen, kann Anke Römer nicht unterschrieben. «Die Intensität der Aufzucht wirkt sich nicht unbedingt auf die spätere Grösse aus. Nur Kälber, die Mangelerscheinungen aufweisen, bleiben kleiner», sagt sie und: «Zudem besteht eine positive Korrelation zwischen der Grösse der Kühe und ihrer Milchleistung. Diese Kurve flacht aber ab und sollte daher nicht überzogen werden.»
Anke Römers Fazit ist klar: «Nur gesunde, vitale und optimal aufgezogene Kälber werden später die besten Kühe. Sie sind die zukünftigen Prinzessinnen.» Für die Kälberaufzucht empfiehlt sie folgende Punkte zu beachten:
- Kolostrum: Frühestmögliche Kolostrumgabe, so viel das Kalb mag und von sehr guter Qualität.
- Geburtsgewicht: Das Kälbergeburtsgewicht sollte erfasst werden. Bei Geburt bereits schwere Kälber brauchen deutlich mehr Milch.
- Tränke: Vom 1. Tag an so viel Tränke wie möglich verabreichen.
- Milchaustauscher: In den ersten Lebenstagen möglichst Kolostrum tränken, danach Um-stellung auf Milchaustauscher (MAT) möglich. Auf gute MAT-Qualität achten (insbesondere in der Zusammensetzung, d. h. der Eiweiss- und Fettquellen).
- Bis zum 100. Lebenstag: Ad-libitum-Tränke bis etwa 4./5. Lebenswoche. Danach bis zirka zum 100. Lebenstag abtränken (möglichst tierindividuell).
- Ab 6. Lebensmonat: Ab dem 6. Lebensmonat die Energieaufnahme bremsen. Die Tiere sollen das Fressen nicht verlernen, aber weniger zunehmen, da sich ab dann bei gleicher Aufzucht-Intensität das Verhältnis von Protein- und Fettansatz umkehrt und die Gefahr einer Verfettung entsteht (Rationen mit sinkenden Energiegehalten, aber steigender Trockensubstanzaufnahme; Weide).
- Erstbesamung: Erstbesamung nicht nach Alter, sondern nach Gewicht (bei Holstein ab 380 kg).
Winterkälber sind schwerer
Die 243 404 am obigen Versuch beteiligten Kälber wurden alle nach der Geburt gewogen. Im Mittel lag das Geburtsgewicht bei 42,6 kg, wobei die weiblichen Tiere im Durchschnitt 41 und die männlichen 44 kg wogen. Der Fötus wächst am Ende der Trächtigkeit am meisten. Da Stierkälber im Schnitt eine längere Tragezeit haben, werden sie oft schwerer geboren.
Das Gewicht des Kalbes ist aber nicht nur vom Geschlecht, der Rasse und der Genetik abhängig. Im Versuch konnte aufgezeigt werden, dass die Kälber im Sommer leichter sind als jene im Winter (siehe Grafik). Durchschnittlich waren sie im Sommer 42,1 kg und im Winter 42,7 kg schwer. «Die Gründe dafür sind vielfältig», erklärt Anke Römer auf Anfrage der BauernZeitung. «Ein Grund könnte die vom Menschen organisierte asaisonale Abkalbung der Kühe sein. Normalerweise werden Kühe im Frühling vom Bullen gedeckt und kalben neun Monate später ab – also im Winter oder Frühling», ergänzt sie. Sommerkalbungen seien eher «unnormal». Andererseits hätten Kühe, die im Sommer abkalben, in ihrer Trockenstehzeit nicht immer die optimalsten Bedingungen (Hitzestress, Futterumstellungen usw.), weiss sie. Einen weiteren Einfluss auf das Gewicht des Neugeborenen hat die Laktationszahl der Kuh. Da Kühe erst in der dritten Laktation ausgewachsen sind, steigt das Geburtsgewicht ihrer Kälber bis zu jenem Zeitpunkt. Ab der dritten Laktation stagniert das Gewicht der Kälber.
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